Die Zahl der erwerbslosen IT-Fachkräfte ist in Deutschland im vergangenen Jahr um ein Fünftel angestiegen. Diese Daten hat die Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage des Online-Portals 8heise.de ermittelt. Dem steht der unter anderem vom Branchenverband Bitkom beklagte Fachkräftemangel gegenüber.
Von Linn Vertein
Im Januar dieses Jahres sind noch einmal 8000 Erwerbslose hinzugekommen. Das entspricht einem globalen Trend: Die Entlassungswelle in der IT-Branche scheint sich 2024 fortzusetzen. Der Seite layoffs.fyi zufolge, die Entlassungen in der Branche anhand von knapp 1200 Tech-Unternehmen weltweit auswertete, wurden im Jahr 2022 fast 170 000 Beschäftigte entlassen; im darauffolgenden Jahr waren es mit circa 260 000 nahezu 100 000 mehr. Bis Ende Januar 2024 hatten 35 Tech-Unternehmen bereits 5586 Angestellte entlassen.
KI als Jobkiller
Am 24. Januar kündigte das baden-württembergische Softwareunternehmen SAP an, 8000 Arbeitsplätze streichen zu wollen und begründete dies damit, „in die nächste Phase der Transformation“ gehen zu wollen. Heißt: mehr auf Künstliche Intelligenz (KI) zu setzen. Das ist derzeit die am häufigsten genannte Begründung für Stellenkürzungen in der IT-Branche. Neben Umschulungen wolle SAP dabei auf „Freiwilligenprogramme“ setzen, also Abfindungsregelungen.
„Das ist typisch für die Branche“, sagt ver.di-Gewerkschaftssekretär Oliver Hauser. „Die Arbeitgeber wollen keine Massenentlassungsanzeige machen und sind bemüht, das Thema zu individualisieren.“
Falle Aufhebungsvertrag
Oliver Hauser hat dies am Beispiel vom Musikstreamingdienst Spotify beobachten können. Im Dezember vergangenen Jahres gab das schwedische Unternehmen bekannt, ungefähr 17 Prozent seiner Angestellten entlassen zu wollen. In der Niederlassung in Berlin sind davon circa 50 Beschäftigte betroffen; diesen wurden Aufhebungsverträge vorgelegt, meist mit sehr kurzer Bedenkzeit. Die mehrheitlich ausländischen Mitarbeitenden sprechen oftmals kein Deutsch und kennen sich in den allermeisten Fällen auch nicht mit dem deutschen Arbeitsrecht aus. Das macht es den Arbeitgebern umso einfacher, sie zum Unterzeichnen der Aufhebungsverträge zu bewegen. Hauser riet an dieser Stelle bereits eindrücklich davon ab, die Verträge zu unterschreiben, denn: „Wer einmal unterschrieben hat, hat mögliche Rechte aus dem Kündigungsschutz verloren.“
Mit solchen Abfindungsregelungen sollen „soziale Auswahlkriterien ausgehebelt“ werden, die bei einem Stellenabbau im Zuge regulärer Kündigungen zum Tragen kämen, so die Einschätzung des Arbeitsrechtsanwalts Benedikt Rüdesheim, der den Betriebsrat von Spotify vertritt. Rechtlich gesehen sei das erst mal unbedenklich. In diesem besonderen Fall habe die Unternehmensführung allerdings „auch noch Betriebsratsrechte ausgehebelt“. Mit den Aufhebungsverträgen hatte diese am Betriebsrat vorbei agiert. Da der geplante Stellenabbau jedoch mindestens zehn Prozent der Belegschaft betrifft, hätten die Verträge zunächst mit dem Betriebsrat ausgehandelt werden müssen. Somit wurde das Arbeitsrecht verletzt. Der Betriebsrat hat nun eine einstweilige Verfügung gegen den weiteren Abschluss der Verträge erwirkt.
Betriebsräte gegründet
ver.di hat in der Vergangenheit immer wieder versucht, Belegschaften in der IT-Branche bei der Gründung eines Betriebsrats zu unterstützen. Sowohl bei der Social-Media-Plattform TikTok als auch bei Spotify ist das gelungen. Wobei gerade die Belegschaft von Spotify recht eigenständig sei: In vielen Angelegenheiten haben sie die Kommunikation mit dem Unternehmen an ihre Anwälte abgegeben. „Das ist, glaube ich, auch ein bisschen diese Tech-Mentalität“, meint Hauser. Die Mitarbeitenden auf diesen Ebenen sind meist hoch qualifiziert und professionell und denken sich vielleicht auch: „Ich lass das mal Leute regeln, die es besser können.“
Generell schätzt der Gewerkschaftssekretär den Organisierungsgrad und die Arbeit von ver.di in der Berliner Tech-Branche recht positiv ein: „Was das Organizing angeht und neue Mitgliedschaften, läuft da schon relativ viel.“ Nur „leider sind wir in keinem Unternehmen so weit, dass man den Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen auffordern könnte“.
Viele IT-Fachkräfte hätten noch nie irgendwo gearbeitet, wo es solche Strukturen gibt, und auch meist den Luxus gehabt, wenn ihnen etwas nicht passt, einfach gehen zu können. Eine entsprechende Fluktuation im Bereich IT-Engineering sei daher auch ihrer relativ privilegierten Situation auf dem Arbeitsmarkt geschuldet, so Hauser weiter.
Denn den vielen Entlassungen stehen mindestens ebenso viele Jobangebote gegenüber: Ende 2023 waren in Deutschland 149 000 Stellen in der Technologiebranche vakant und der Branchenverband Bitkom spricht von einem Fachkräftemangel, der sich gegenüber dem Vorjahr weiter verschärft hat.
IT-Fachkräfte weiter gesucht
Obwohl der Trend weltweit dazu neigt, dass Arbeitsplätze in der Tech-Branche durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz abgebaut werden, ist die Chance, innerhalb weniger Monate einen neuen Arbeitsplatz zu finden, zumindest in Deutschland recht hoch. Das bestätigen die Daten der Bundesagentur: In der Regel finden IT-Fachkräfte innerhalb von sechs Monaten eine neue Beschäftigung. Die Vermittlung durch das Arbeitsamt spiele dabei kaum eine Rolle. Bei einer Arbeitslosenquote von 3,1 Prozent spricht die Agentur für Arbeit von einer Vollbeschäftigung in der IT-Branche.
Anders sieht es hingegen bei Clickworkern aus oder jenen, die im Bereich Content-Moderation oder Kundenservice arbeiten. Diese Arbeiten, die in der Regel keine besondere Qualifizierung voraussetzen, sind durch deutlich niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen gekennzeichnet. Zudem arbeiten hier viele ausländische Angestellte, deren Aufenthaltsgenehmigung an einem Beschäftigungsverhältnis hängt.
Erfolg bei TikTok
Ein Beispiel für erfolgreiche gewerkschaftliche Organisierung in diesem Bereich sind die Content-Moderatoren bei TikTok. „Der Betriebsrat arbeitet richtig gut und sehr professionell“, erzählt Gewerkschaftssekretärin Kathlen Eggerling. „Dass das so schnell geht, habe ich selten erlebt.“ Im Oktober 2022 wurden erstmals erfolgreich Betriebsratswahlen bei TikTok durchgeführt. Perspektivisch schließt Eggerling einen Kampf für einen Tarifvertrag nicht aus. Im Gegenteil: „Meine Einschätzung ist, dass viele Beschäftigte darauf Lust haben“, meint sie. Begonnen hatte die Organisierung der Belegschaft unter anderem damit, dass diese das System des Performance-Review, also einer Leistungsbewertung, als willkürlich empfand. Mit der Bezahlung seien viele Beschäftigte ebenfalls nicht zufrieden. Auch hinsichtlich möglicher Tariflöhne stelle sich die Frage, wie die Arbeit von Content-Moderatoren korrekt zu kategorisieren sei, so Eggerling. „Vielleicht ist es am ehesten mit einer redaktionellen Tätigkeit vergleichbar.“ Doch nicht nur die Bezahlung ist ein großes Thema für die Belegschaft. Diese fordert auch bessere psychologische Versorgungsangebote, denn die Inhalte, mit denen die Beschäftigten konfrontiert werden, sind zum Teil traumatisierend.